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Göttlicher Kindesmissbrauch?  Feministische Kritik an traditionellen Kreuzestheologien

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Göttlicher Kindesmissbrauch?  Feministische Kritik an traditionellen Kreuzestheologien

 

„Frauen werden akkulturiert, Missbrauch zu akzeptieren“. So beginnt ein viel beachteter Aufsatz von Joanne Carlson Brown und Rebecca Parker mit dem Titel „For God so loved the world?“ (1989). In diesem Artikel nutzen die Autorinnen die Formulierung des „göttlichen Kindesmissbrauchs“, um traditionelle Deutungen des Kreuzestodes Jesu zu kritisieren. Auch heute taucht diese Formulierung immer wieder in Beiträgen auf, oft als abschreckendes Beispiel für die Kritik an klassischen Kreuzesdeutungen, die jegliches Maß überzogen habe. Allerdings wird in den meisten Fällen nicht auf den Text von Brown und Parker Bezug genommen, sondern auf den Londoner Pastor Steve Chalke, der in seinem 2003 erschienen Buch „The lost Message of Jesus“ etwas abgewandelt von „cosmic child abuse“ geredet und damit für viel Aufsehen gesorgt hatte. Dabei hatte Chalke in seinem Buch diese Formulierung indirekt benutzt und gerade gesagt, dass das Kreuz keinenkosmischen Kindesmissbrauch darstellen würde[1]. Überhaupt entfaltet Chalke in seinem Buch keine ausführliche Kritik an Kreuzestheologien, der Begriff fällt eher beiläufig. Auf diese Weise scheint mir die bemerkenswerte und auch heute noch relevante Argumentation von Brown & Parker in den Hintergrund getreten zu sein. Es ist Zeit, ihre Argumente neu wahrzunehmen.   

Brown & Parker beginnen mit einer Darstellung eines zentralen Motivs von feministischem Denken, dem Narrativ von gerechtfertigtem Leid:

“Women are acculturated to accept abuse. We come to believe that it is our place to suffer. Breaking silence about the victimization of women and the ways in which we have become anesthetized to our violation is a central theme in women’s literature, theology, art, social action, and politics. With every new revelation we confront again the deep and painful secret that sustains us in oppression: We have been convinced that our suffering is justified.”

 

Als Theologinnen spüren sie diesem Narrativ in der christlichen Theologie nach und stellen die These auf, dass das Christentum eine der maßgeblichen Kräfte darstellt, wodurch die Akzeptanz von Missbrauch Gestalt gewinnt. Zentral sei hier das Motiv vom gekreuzigten Christus, das die Botschaft vermittle, dass Leiden erlösenden Charakter habe. Wenn der beste Mensch, der jemals lebte, sein Leben für andere gegeben habe, müssten wir, um wertvoll zu sein, unser Leben ebenfalls opfern. Das Sorgetragen für eigene Bedürfnisse und steht somit im Widerspruch zur Nachfolge Jesu.

Diese Sichtweise werde verstärkt durch eine Theologie, die behauptet, Christus habe im Gehorsam zum Willen seines Vaters gelitten:

„Divine child abuse is paraded as salvific and the child who suffers „without even raising a voice“ is lauded as the hope of the world. Those whose lives have been deeply shaped by the Christian tradition feel that self-sacrifice and obedience are not only virtues but the definition of a faithful identity. The promise of resurrection persuades us to endure pain, humiliation, and violation of our sacred rights to self-determination, wholeness, and freedom.”   

 

Das passive Erleiden – insbesondere von Frauen –, Demütigung, selbstaufopfernde Liebe und Sanftmut werden in Jesus als vorbildhafte Werte dargestellt und idealisiert und somit Frauen aufgezwungen. Da dies der zentrale Kern von christlichen Kreuzestheologien sei, könne die Konsequenz für Frauen nur sein, die Kirche zu verlassen, um Befreiung zu erfahren. Diese verinnerlichte Theologie halte Menschen in einem Kreislauf von Märtyrertum und Opferhaltung gefangen, der quasi undurchbrechbar sei. Um Teil von Kirche bleiben zu können, müsste es eine Konsequente Absage an die Glorifizierung von Leid geben. Allerdings, so die Autorinnen, hinterfrage keine der klassischen Kreuzestheologien die Notwendigkeit des erlösenden Leidens Jesu. Somit gebiete jede Kreuzestheologie, dass Nachfolger*innen Jesu zu leiden hätten und wie Jesus Schmerz zu erleiden hätten.

In einem weiteren Argumentationsschritt gehen die Autorinnen drei traditionelle Kreuzestheologien durch und zeigen jeweils, inwiefern diese von der Notwendigkeit des Leidens ausgehen. An dieser Stelle möchte ich eine kurze Bemerkung einfügen. Verschiedentlich nehme ich in Beiträgen von konservativen und evangelikalen Christ*innen die Haltung wahr, dass die Deutung des Kreuzestodes Jesu als stellvertretende Sühne bzw. Strafleiden die einzige Deutung sei, die in der Geschichte des Christentums dominierte und als rechtgläubig verstanden wurde. Hierzu sei angemerkt, dass im Rahmen der Dogmengeschichte seit langem untersucht wurde, inwiefern sich Kreuzesdeutungen über die Jahrhunderte der Kirchengeschichte verändert und in ihrem Schwerpunkt verlagert haben. Dies setze ich hier voraus und verweise für eine Begründung dafür, dass diese Entwicklungen stattgefunden haben, auf einschlägige Darstellungen.

 

Christus Victor

Gustav Aulén hat im Jahr 1930 eine einflussreiche theologische Ausarbeitung vorgelegt, in der er die Aussagen von Kirchenvätern wie Ireneus und Eusebius über den Kreuzestod Jesu untersucht hat. Anders, als es oft üblich war, hat Aulén nicht in erster Linie biblisch argumentiert, sondern hat mit seiner Arbeit dogmengeschichtliche Systematik betrieben. Er analysierte historische Quellentexte der Kirchenväter. Sein Ergebnis war, dass in der Kirchengeschichte neben den viel diskutierten Kreuzestheologien der Satisfaktionslehre und der Theorie des moralischen Einflusses eine weitere, viel frühere Theorie anzutreffen sei. Die frühe Kirche habe den Kreuzestod Jesu primär als Sieg über Tod und Teufel verstanden. Aulén nannte diesen Ansatz entsprechend „Christus Victor“.

In der frühen Kirche haben man geglaubt, dass Gott mit dem Teufel einen Tauschhandel ausgemacht habe. Der Teufel würde Jesus ins Totenreich nehmen können, dafür müsste der Teufel die Menschheit ziehen lassen. Der Teufel habe jedoch nicht damit gerechnet, dass Jesus auferstehen würde, so dass am Ende sowohl die Menschheit befreit worden sei als auch Tod und Teufel durch die göttliche List besiegt worden wären. Für Gregor von Nyssa war Jesus daher wie ein Fisch-Köder, den der Teufel schluckte. Der Herrlichkeit und dem Licht Jesu hatte der Teufel nichts entgegenzusetzen, so dass er Jesus im Tod nicht halten konnte. Diese Erzählung erinnert an die griechische Mythologie, in der Orpheus seine Ehefrau Eurydike aus der Unterwelt befreit. Für Brown & Parker ist dieser Mythos heute wenig hilfreich:

„But its charm ends here. By incorporating the actual death of Jesus into a mythic framework, his suffering and death are retold as divine trickery, part of a larger plot to deceive the deceiver. The death of Jesus is merely a ploy, a sleight of hand, an illusion.“

Diese Theorie hat auch eine moderne Variante. Der Mystiker Mathew Fox versteht Erlösung in Verbindung mit der „dunklen Nacht der Seele“ nicht als Vermeidung von Leid sondern als Gang durch Leid. Auch hier sind Brown & Parker skeptisch und vermuten eine Verschleierung von Leid. Zwar erkennen sie den psychologischen Wert des Angehens von inneren Dunkelheiten an, ein Vergeistlichen könne aber darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur um einen psychologischen Prozess des Loslassens gehe, sondern um die Realität des Bösen.

Wer in der Tradition des Christus Victor verwurzelt sei, würde verinnerlichen, dem Leid geduldig gegenüberzutreten, in der Hoffnung, dass daraus etwas Gutes erwachse. Gott werde als durch Leid wirkend verstanden, als allmächtiger, jedes Ereignis determinierender Planer, dessen Wege zu einem größeren Ganzen („bigger picture“) gehören, das die Glaubenden nur nicht sehen könnten. Für Brown & Parker wird die Verzerrung dieser Sicht am Beispiel des Holocausts deutlich, hinter dem entsprechend ein göttlicher Zweck zu vermuten wäre. Dieser Theologie wird ein verheerender Effekt beigemessen, Viktimisierung führe niemals zu einem Triumpf.

It can lead to extended pain if it is not refused or fought. It can lead to destruc- tion of the human spirit through the death of a person’s sense of power, worth, dignity. or creativ- ity. It can lead to actual death. By denying the reality of suffering and death, the Christus Victor theory of the atonement defames all those who suffer and trivializes tragedy.

 

Satisfaktionslehre

Die Satisfaktionslehre geht auf Anselm von Canterbury zurück († 1109 n. Chr.). Er ging der Frage nach, warum Gott in Jesus Mensch werden musste. Als Kind seiner Zeit war Anselm stark vom Feudalismus geprägt, also von dem Denken, das Menschen ein unterschiedlicher Grad an Würde zusteht. Ein Grußgrundbesitzer verdient mehr Ehre als das Kind eines hörigen Bauern. Wird die Ehre einer Person verletzt, dann muss diese Ehre wiederhergestellt werden und Genugtuung geleistet werden. Würde beispielswiese einem Großgrundbesitzer ins Gesicht geschlagen werden, so würde zur Wiederherstellung der Ehre möglicherweise der Täter getötet werden müssen, während das Schlagen eines solchen Kindes wegen geringer Ehre keiner Genugtuung bedarf. Anselm glaubte, dass Gott unendlich große Ehre gebühre und Gott nichts so sehr achte, wie seine eigene Ehre. Der Mensch habe Gottes Ehre durch seine Sünde verletzt und schulde Gott daher eine Genugtuung, die der Mensch nicht leisten kann. Daher muss Gott selbst Mensch werden, um am Kreuz Genugtuung zu leisten und seine eigene Ehre wiederherzustellen. Zentral für die Kreuzesdeutung bei Anselm ist die Spannung zwischen den göttlichen Attributen von Gerechtigkeit und Liebe, die durch Menschwerdung und Kreuzigung gelöst wird. Brown & Parker kritisieren mit vielen anderen Theolog*innen an dieser Stelle das Gerechtigkeitsverständnis. Wird Gerechtigkeit im Sinne einer strafenden Gerechtigkeit verstanden, dann ist dies für die Unbekleideten, Hungrigen und Gefangenen keine gute Nachricht. Die soziale Ordnung zur Zeit von Anselm wurde mit Zwang und Terror aufrechterhalten. Diese Kreuzestheologie würde ebenfalls Leid als Folge von ungerechten Strukturen festigen und deren Überwindung unterlassen – was als unmoralisch anzusehen sei. Außerdem sehen Brown & Parker hier Zusammenhänge zu missbräuchlichen Denkmustern, insbesondere wenn Liebe mit Leid gleichgesetzt würde:

 

“…the image of Jesus hanging from the cross, encourages women who are being abused to be more concerned about their victimizer than about themselves. Children who are abused are forced most keenly to face the conflict between the claims of a parent who professes love and the inner self which protests violation.

When a theology identifies love with suffering, what resources will its culture offer to such a child? And when parents have an image of a God righteously demanding the total obedience of „his“ son—even obedience to death—what will prevent the parent from engaging in divinely sanctioned child abuse? The image of God the father demanding and carrying out the suffering and death of his own son has sustained a culture of abuse and led to the abandonment of victims of abuse and oppression.”

 

Moralischer Einfluss

Die Theorie des moralischen Einflusses geht auf den Mönch Petrus Abaelardus († 1142 n. Chr.) zurück. Dieser sah die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu darin verankert, dass am Kreuz die Liebe Gottes offenbar wurde. Die Offenbarung der Liebe Gottes hat wiederum die Kraft, transformierend in der Menschheitsgeschichte wirksam zu sein und die Lieblosigkeit der Menschen zu überwinden, da in Jesu Sterben eine hingebungsvolle Liebe vorbildhaft deutlich werde.

Brown & Parker kritisieren an dieser Theorie, dass sie dysfunktionale Hass-Liebe-Beziehungen vergeistlichen würde. Hier würden Doppelbotschaften gesendet, unter denen vor allem Frauen zu leiden hätten. Am Beispiel des Theologen Helmut Thielicke kritisieren sie eine Einstellung, nach der übergriffiges, destruktives und gewaltätiges Verhalten von Männern durch das Bewegtwerden von viktimisierten Frauenschicksalen transformiert werden können: Frauen müssen Leiden, damit Männer ihren natürlichen Hang zu Destruktivität überwinden können.

 

Die kritische Traditionen

Im 20. Jahrhundert haben verschiedene Theolog*innen neu über Kreuzestheologien nachgedacht und grundlegende Kritik an den traditionellen Positionen geübt. Diese trügen zu Unterdrückung bei. Brown & Parker stellen fest, dass neu entwickelte Ansätze Gott nicht mehr als unterdrückenden Tyrann verstehen möchten und außerdem Leid negativ bewerten und ein göttliches Gutheißen von Leid ablehnen. Die einzige Ausnahme bildet dabei das Leiden Jesu, das als notwendig verstanden werde.

 

Der Leidende Gott

Für das 20. Jahrhundert ist die Vorstellung des „Leidenden Gottes“ für kritische Theologien maßgebend – sie bildet fast schon eine neue Orthodoxie. Wo frühere Theologien Gott als leidensunfähig („Impassibilität“) darstellten, wurde nun die Leidensfähigkeit Gottes betont. Man wollte Gott nicht mehr als teilnahmslosen, distanzierten Patriarchen denken, sondern als den mitleidenden, verstehenden, solidarischen Gott, der Befreiung für Leidende bewirken möchte. Brown & Parker werten diese Entwicklung als sehr positive und radikale Änderung, die bei genauerem Hinsehen jedoch immer noch von den Denkmustern der klassischen Theologien durchzogen sei. Dies stellen sie unter anderem am Beispiel von Jürgen Moltmann dar, der in seinem Buch „Der gekreuzigte Gott“ das Leiden Jesu als „aktive Passion“ (2016, S. 53) deutete. Nach Moltmann brachte Jesus durch seine Botschaft und sein gelebtes Leben seine Umwelt gegen sich auf. Die Kreuzigung sei kein böses Schicksal gewesen, kein heroisches Scheitern, vielmehr habe Jesus das zu erwartende Leiden aktiv auf sich genommen. Er habe aufgrund des befreienden Wortes Gottes gelitten. Brown & Parker kritisieren, dass Moltmann hier keine klare Unterscheidung zwischen einer Entscheidung zu Leben und einer Entscheidung zum Leiden trifft. Die Lust am Leben sei es, was die Kraft habe, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen – nicht die Entscheidung zum willentlichen Leiden, welches nach Moltmann eine erlösende Wirkung habe. Denn auf diese Weise werde das Akzeptieren von Leid mit Liebe gleichgesetzt. Auch so werde das Leid glorifiziert.

 

Progressive Theologien

Ein weiterer Trend, den Brown & Parker ausmachen, sei in progressiven Theologien weit verbreitet. Hier werde Leiden im Kontext eines größeren historischen Prozesses gesehen. Die Kreuzigung Jesu würde als Zeichen der Dämmerung vor einem neuen Zeitalter verstanden. Jesus stehe als Symbol des Kampfes, denn bevor weitreichende gesellschaftliche Durchbrüche einer gerechteren Welt entstehen können, erleben sich für Wandel einsetzende Menschen eine Zeit von Gewalt, Opfer und Bedrängnis. Auch diese Sicht einer Theologie des Märtyrertums wird mit einem prominenten Beispiel veranschaulicht, hier verweisen Brown & Parker auf Martin Luther King, welcher im Leiden eine große soziale Kraft sah. Das willentliche Akzeptieren von Leid werde laut King zu einer großen sozialen Kraft, Leid stehe daher im Zentrum der Bewegung der Gewaltlosigkeit. Unverdientes Leid sei erlösend, es diene der Transformation der sozialen Situation – so King. Die erlösende Funktion des Leides bestehe in ihrem Potential, Täter des Bösen zu einer Umkehr zu inspirieren.   

Die Gewalt der Unterdrückenden werde eingesetzt, um Veränderungen zu verhindern, Stimmen zum Schweigen zu bringen und die einzuschüchtern, die den Status quo infrage stellen. Die von Brown & Parker kritisierten Theologien stellten Leid jedoch als etwas Positives und zum Transformationsprozess Zugehöriges dar. Damit werde Leid mythologisiert, es werde als Teil eines göttlichen Prozesses verstanden, der in Jesus veranschaulicht worden sei.  

 

Die Negativität des Leidens  

Brown & Parker entdecken dieses Motiv auch in Theologien, die eine Notwendigkeit des Kreuzestodes an der Solidarität Gottes festmachen. Der Gedankengang kann so dargelegt werden: Gott missfällt Gewalt und möchte Leiden verhindern, möchte mit den Unterdrückten solidarisch sein. Um seine Liebe und Solidarität ausdrücken zu können, bedarf Gott des Kreuzestodes:

„The cross and the suffering and death of Jesus are necessary for God to have any solidarity with the poor and oppressed of the world. Without it God cannot be the compassionate, loving God we have posited. Without the cross there is no Christianity.“

Brown & Parker kritisieren, dass dieses Motiv der Solidarität Leid heiligt und auf diese Weise Leid reproduziert:  

But to sanction the suffering and death of Jesus, even when calling it unjust, so that God can be active in the world only serves to perpetuate the acceptance of the very suffering against which one is struggling. The glorification of anyone’s suffering allows the glorification of all suffering. To argue that salvation can only come through the cross is to make God a divine sadist and a divine child abuser.

Diese Dynamik wird laut Brown & Parker von der feministischen Theologin Carter Heyward entlarvt. Sie negiert die Notwendigkeit des Kreuzestodes Jesu grundsätzlich, markiert diesen als menschlichen Gewaltakt und spricht sich gegen einen christlichen Masochismus aus, der das Aufnehmen von Schmerz und Leid als Zeichen der Nachfolge Jesu versteht. Zu kritisieren sei an ihrem Ansatz, dass sie sich immer noch in die christliche Tradition einsortiere und sich nicht grundsätzlich von Kreuzestheologien distanziere, indem sie das Christentum als solches für missbräuchlich erkläre. Für Brown & Parker ist das jedenfalls die Schlussfolgerung: Das Christentum an sich sei eine missbräuchliche Theologie, die Leiden verherrliche. Insbesondere die Versöhnungslehre („Atonementtheory“) müsse abgelehnt werden, was zu der Frage führe, ob überhaupt noch ein Christentum übrigbleiben könne, wenn dies herausgeworfen werden würde.

Brown & Parker gehen den Versuch an und skizzieren einige Eckpunkte eines solchen Versuches. Der christliche Glaube müsste in seiner Essenz Gerechtigkeit, radikale Liebe und Befreiung verkörpern. Diese Werte sieht man in Jesus beispielhaft vorgelebt. Jesus habe sich entschieden, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung vorzugehen. Jesus habe das Kreuz nicht gewählt, sich aber für Integrität und Treue entschieden und sich geweigert, angesichts von Bedrohung seinen Kurs zu ändern. Der Tod Jesu war ein menschlicher ungerechter Gewaltakt, um Jesus zum Schweigen zu bringen. Dieser Tod wird auch nicht durch die Auferstehung in ein anderes Licht gerückt, sp dass Jesu Tod ein akzeptables Opfer für eine gute Sache wäre. Das Kreuz hat keinen Frieden bewirkt, es hat niemanden gerettet. Denn Leiden hat keinen rettenden, erlösenden Charakter. Angesichts der Tragödie des Kreuzes und der Gewalt in der Welt ist die ewige Trauer Gottes Ausdruck göttlicher Liebe.  

 

Kritische Einordnung

Inwiefern das gesamte Christentum missbräuchlich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Immerhin gibt es christliche Theologien, die die Heilsnotwendigkeit des Kreuzes ablehnen und stattdessen die Auferstehung stärker betonen. Insbesondere die radikale Theologie, feministische Theologien oder die Prozesstheologie scheint mir hier zu nennen zu sein. Ich denke darüber hinaus, dass die Argumentation von Brown & Parker stimmig und konsequent ist. Sie hinterfragen auch moderne, kritische und liberale Kreuzestheologien in einer Weise, wie ich es selten sonst gelesen habe. Angesichts der Tatsache, dass gerade auch in progressiven Kreisen eher Männer tonangebend sind, ist es nicht verwunderlich, dass derartige Argumentationen immer wieder untergehen.

Ergänzend möchte ich erwähnen, dass mit René Girard eine weitere Kreuzestheologie entwickelt worden ist, die in ihrer Kritik mitbedacht werden könnte. Für Girard ist der Kreuzestod Jesu das Durchbrechen einer Gewaltspirale. Durch das Aufdecken eines „Sündebockmechanismus“ hat Jesus als unschuldiges Opfer einem ausbeuterischen und zerstörerischem System die Maske vom Gesicht gerissen und die Mechanismen menschlicher Gewalt, die Girard als Mimese (Nachahnung) versteht, offengelegt. Auch hier könnte man kritisch fragen, inwiefern der Kreuzestod Jesu heilsnotwendig gewesen ist.

Wie bereits bei den Ausführungen zu progressiven Ansätzen bei Martin Luther King blieb für mich in der Argumentation von Brown & Parker etwas unklar, wie sich der Einsatz gegen Unterdrückung (welcher mit einem Preis einhergeht) und die Verherrlichung von Gewalt zueinander verhalten. Inwiefern ist es eine Verherrlichung von Gewalt, wenn im Namen der Überwindung von Unterdrückung dazu aufgerufen wird, die Risiken des Befreiungskampfes bewusst in Kauf zu nehmen? Wo verläuft hier die Grenze?

In meinem Buch „Gott kann auch nicht alles“ spreche ich von der „Absurdität des Kreuzestodes“. Damit möchte ich betonen, dass Kreuzesdeutungen dem Leid Jesu keine Heilsbedeutung und keinen Gewalt rechtfertigenden Sinn geben sollten. Auch ich lehne die Heilsnotwendigkeit des Kreuzestodes ab. Allerdings sehe ich eine Spannung zwischen dem Einsatz für gerechtere Verhältnisse und einer verantwortlichen Selbstfürsorge. Freiheit und Gerechtigkeit sind in der Geschichte immer nur gegen unterdrückerische Kräfte erstritten worden. Menschen haben dafür einen Preis bezahlt und oft gar nicht von den durch sie ermöglichten Freiheiten profitiert.

Der Tod des russischen Oppositionellen Nawalny oder die vielen oft unbekannten Protestierenden gegen das iranische Mullah-Regime, die in den letzten Jahren hingerichtet worden sind, erinnern deutlich daran, dass Freiheit einen hohen Preis haben kann. Dieses Leid hat keinen Selbstzweck, es geht um die Veränderung der Lebensumstände. Der Theologe Walter Wink sprach vom „Mythos der erlösenden Gewalt“, welcher sehr nahe an den Ausdruck des verherrlichten oder geheiligten Leidens bei Brown & Parker herankommt. Auch er kann das theologische Spannungsfeld besser erhellen.

Ich denke, dass Brown & Parker eine sinnvolle Unterscheidung treffen. Der Kampf gegen Unterdrückung ist mit einem Ruf zum Leben in Freiheit verbunden, das ist das Ziel. Der Ruf, „das Kreuz auf sich zu nehmen“, beschreibt kein geheiligtes Leid, es ist eine erwartete Reaktion auf den Einsatz für gerechte Verhältnisse. Aber lässt sich das von anderen verlangen? Oder sollte man sagen, dass dieses Verlangen gerade nicht unterlaufen werden darf? An dieser Stelle ist das Auflösen von Spannungen nicht grundsätzlich möglich. Auch Brown & Parker bleiben an dieser Stelle eher sprachlos. Dennoch wird ihr Anliegen deutlich und ihre Gedankengänge können für theologische Diskurse sehr hilfreich sein.

 

[1] “The fact is that the cross isn’t a form of cosmic child abuse—a vengeful Father, punishing his Son for an offence he has not even committed. Understandably, both people inside and outside of the Church have found this twisted version of events morally dubious and a huge barrier to faith. Deeper than that, however, is that such a concept stands in total contradiction to the statement: ‘God is love.’ If the cross is a personal act of violence perpetrated by God towards humankind but borne by his Son, then it makes a mockery of Jesus’ own teaching to love your enemies and to refuse to repay evil with evil” (Steve Chalke and Alan Mann, The Lost Message of Jesus, [Grand Rapids, MI: Zondervan, 2003], pp. 182-183).


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