Quantcast
Channel: jasonliesendahl.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 17

Die Bibel uminterpretieren?

$
0
0

Die Bibel (um)interpretieren?

 

Vor ein paar Tagen habe ich den Insta-Live Talk von Paul und Peter Bruderer verfolgt, beide hatten auf dem Kanal von @mein.idea über das Progressive Christentum gesprochen. Nun kam auf Idea ein Artikel heraus, der diesen Abend zusammengefasst hat. Idea titelt: “Progressive interpretieren biblische Inhalte teils radikal um“.

 

Was wird damit gemeint? Der Autor schreibt über die Progressiven: „Darum fühlten sie sich frei, selbst zentrale christliche Überzeugungen neu zu definieren.“ Als Beispiel erwähnt er die Thematik der „Sünde“, die in progressiven Kreisen „mehr in den äußeren Strukturen und weniger im Wesen des Menschen“ verortet werde. Außerdem bezogen sich die Gesprächsteilnehmer auf das Verständnis des Kreuzestodes. Auch hier wird Kritik an den Progressiven geübt: „Jesus sei nach diesem Verständnis deshalb nicht stellvertretend für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben, sondern ein ethisches Vorbild, um gesellschaftliche Missstände zu überwinden.“

 

Ich bin tatsächlich an dem Vorwurf des Uminterpretierens hängen geblieben. Texte interpretieren und anderen beizubringen, das vernünftig zu machen, ist mein Job. Da bin ich gedanklich schnell bei so manchen Unterrichtsstunden, die ich als Deutschlehrer gehalten habe, und es erinnert mich an verschiedene fachdidaktische Diskussionen aus dem Studium.

 

Im Deutschunterricht gibt es beispielsweise in NRW den Aufgabentyp „interpretieren“ nicht mehr. Er wurde durch „Textanalyse“ ersetzt. Der Hintergrund ist die sogenannte „Krise der Interpretation“, über die Kasper H. Spinner eine schöne Zusammenfassung geschrieben hat.

 

Ein wesentlicher Kritikpunkt am Interpretieren hängt mit der „Entdeckung des Lesers“ zusammen, welche zu folgendem Vorwurf führte: „Interpretieren basiere auf der irrigen Annahme einer objektiven Textbedeutung, unterbinde die kreative Auseinandersetzung des Lesers mit dem Gelesenen und töte so die lebendige, immer individuell geprägte Begegnung mit Literatur ab.“ Die Mehrdeutigkeit wird von dieser Richtung der Didaktiker*innen hochgehalten, wie auch ein ganzheitlicher Blick auf das Lesen. Man kann Texte ja auch mit Lust lesen, ohne analytische Kriterien im Kopf zu haben.

 

Spinner schlägt einen anderen Weg vor. Für ihn ist die Interpretation ein gemeinschaftlicher Prozess: „Interpretieren findet dort statt, wo Lesende sich über den Sinn eines Textes verständigen wollen. Es ist also mehr als nur Lesen und Verstehen, denn es zielt auf intersubjektive Einigung.“

 

Nicht mehr nur das Verhältnis von Lesendem und Text steht im Vordergrund, sondern ein kommunikativer Akt, der sich darin zeigt, dass man aufeinander eingeht, Deutungen erläutert, andere Deutungen prüft und sich gegenseitig die Augen öffnen lässt.

 

Dieses Verständnis von Interpretation setzt nicht voraus, dass es soetwas wie eine objektive Textbedeutung gibt. Stattdessen fußt es auf der Überzeugung, dass man über Sinneserfahrungen miteinander ins Gespräch kommen und ein gemeinsames Verstehen erreichen kann.

 

Für meinen Deutschunterricht ist dieser Ansatz sehr hilfreich. Natürlich habe ich mein eigenes Textverständnis, aber der Unterricht soll nicht dazu verkommen, dass die Schüler*innen auf meine Deutung kommen müssen. Ich erwarte, dass die Schüler*innen ihre Deutung rechtfertigen und spreche auch von falschen Deutungen, wenn diese Rechtfertigung am Text fehlt. Jedoch zwinge ich meine Ansicht niemandem auf. Interpretation ist eben ein unabschließbarer Prozess einer Interpretationsgemeinschaft. Würde ich auf meiner Interpretation als der einzig gültigen bestehen, würde ich die Textbedeutung stark vereinfältigen.

 

Beispielweise würden Bedeutungsebenen verloren gehen, die durch die Verbindung von Text und Lebenswelt der Schüler*innen entstehen. Sinnesebenen gingen verloren. Mein Ziel ist daher die Interpretationsfähigkeit im Sinne einer Diskursfähigkeit.

 

Ich möchte mit der Bibel umgehen, wie mit anderen literarischen Texten auch. Das heißt, dass ich von einer Bedeutungsfülle ausgehe, von unterschiedlichsten Zugängen und von einer Intersubjektivität: Es geht nicht nur um das Verhältnis Lesende:Bibeltext. Es geht um den Prozess der Interpretationsgemeinschaft.

 

Ja, wir müssen hier Interpretationen rechtfertigen. Meine Rückfrage an die beiden Blogger von danieloption.ch wäre gewesen, ob ihr Vorwurf des Uminterpretierens ähnlich gemeint ist: Können Progressive Christ*innen ihre Ansichten bloß nicht auf die Bibel zurückführen? Darüber ließe sich ins Gespräch kommen.

 

Schwierig finde ich es, wenn Interpretation aber dem Deutschunterricht vor der „kommunikativen Wende“ gleichen würde: Die Lehrperson hat die „richtige“ Interpretation und alle anderen müssen diese nur erraten. Der Vorwurf des Uminterpretierens klingt für mich danach. Auch wenn ich verschiedene Texte dieses Blogs lese, die vom „historischen Christentum“ sprechen, dem das „progressive Christentum“ entgegen stünde, gewinne ich diesen Eindruck. Dabei erlebe ich die progressive Diskursgemeinschaft als etwas sehr Bereicherndes: Da kommen Stimmen zur Geltung, die bislang kaum im theologischen Diskurs wahrgenommen wurden. Dieses Potential würde ich auf keinen Fall missen wollen, diese Stimmen sind für die Zukunft der Kirche extrem wichtig.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 17